„Unsere Stärke sind unsere Mitarbeiter“

Schnellecke in Atessa

Vom Flughafen Rom Fiumicino aus brauchen wir etwa eine halbe Stunde mit dem Auto, bis wir in die Abruzzen einfahren. Rund um uns erheben sich die wilden Hügel, an deren Gipfel hier und da Häuser geklatscht sind wie von der Hand eines Riesen dorthin geklebt. Tiefe Schluchten tauchen überraschend auf, weiß leuchtende Felswände und verborgene Täler.

Nach mehreren Stunden erreichen wir die Ebene, die sich bis zur Adria erstreckt. Hier, in der Gemeinde Atessa, hat Schnellecke seinen jüngsten Standort in Italien. Atessa selbst ist eine kleine Stadt, deren Häuser sich auf einer rund 400 Meter hohen Hügelkuppe zusammendrängen. Zur Gemeinde gehört auch das Industriegebiet im Val di Sangro zwischen den Abruzzen und der Adria. Wir fahren vorbei am italienischen Motorradwerk von Honda, bevor wir das Werk des Kunden erreichen, eines der größten Unternehmen in den Abruzzen. Hier laufen Transporter vom Band, deren Chassis auch als Grundlage für Wohnmobile sehr beliebt ist; kein Wunder also, dass die Produktionszahlen ansteigen. Rund um das Werk haben sich zahlreiche Dienstleister und Zulieferer angesiedelt, darunter seit kurzer Zeit auch Schnellecke.

 

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„Wir sind ein Pilotprojekt“

Vor der Halle begrüßen uns Business Unit Leiter Alfonso Tamasi, Laura Gallerani, verantwortlich für LEAN Management in Atessa und Bologna und Operations Manager Antonio Tranquillo. Die Sonne strahlt noch kräftig an diesem Spätseptembertag, aber in der Halle ist es angenehm kühl.

„Wir sind zwar einer der jüngsten Standorte in Europa und auch nicht besonders groß, aber wir sind strategisch sehr wichtig“, sagt Tamasi. Denn Atessa ist die erste Business Unit, die für diesen Kunden in Europa arbeitet. „Bislang hat der Kunde die Linienversorgung in Sevel selbst organisiert“, so Tamasi. „Mit Schnellecke ist nun erstmals ein Externer damit beauftragt worden. Wir sind also sozusagen ein Pilotprojekt.“

Im Juni 2018 wurde der Vertrag unterzeichnet, am 15. Oktober war bereits Produktionsstart. Die Halle ist mit 3.700 qm Fläche nicht besonders groß, aber es ist zunächst nur ein Bruchteil der Werksversorgung für diesen Kunden, der hier abgewickelt wird, insgesamt etwa 1.500 zumeist kleinere Teile. Täglich werden im Wareneingang 23 Lkws entladen. Die Paletten kommen entweder ins Blocklager oder ins Hochregallager. Von dort werden die erforderlichen Lieferungen gepickt. Rund 3.000 Kleinladungsträger (KLTs) verlassen täglich die Halle.

„Geplant war ursprünglich, dass wir für jedes zu bauende Fahrzeug 2,5 KLTs anliefern“, erklärt Tamasi. „Inzwischen sind es schon drei geworden.“ Das macht im Jahr über 900.000 KLTs. Bewältigt wird die Arbeit mit rund 45 Mitarbeitenden in drei Schichten. Hinzu kommen zwei weitere Schichten am Samstag und eine Extraschicht am Sonntag. „Die waren ursprünglich nicht geplant“, so Tamasi. „Deshalb mussten wir im laufenden Betrieb unsere gesamte Organisation umstellen.“

Aber diese Flexibilität ist ein natürliches Merkmal der Mannschaft in Atessa. Sie war bereits beim Produktionsstart erforderlich. Der Kunde operiert an allen Standorten mit einem einheitlichen Lagerverwaltungssystem. Dieser Kundenstandort war der letzte der Unternehmens-gruppe, der im Januar 2019 die Software einführte. „Wir sind Pioniere“, lächelt Gallerani. „Wir sind der erste Logistiker hier in Atessa, der mit diesem System arbeitet.“

Trotz einer einwöchigen Schulung durch den Kunden zeigten sich im Tagesbetrieb schnell einige Probleme. „Einige der Funktionen der Software passten nicht zu unseren Abläufen“, erinnert sich Gallerani. „Wir haben die Funktionen dann angepasst, und nach zwei Wochen lief alles tadellos.“

 

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Vier Routen – vier Farben

Uns fällt auf, dass die Reihen der Hochregale farbig ausgezeichnet sind. Rot, Gelb, Violett und Grün steht auf großen Schildern am Kopf der Regale. Diese Unterteilung findet sich auch beim Warenausgang wieder. „Das sind die vier Routen, die es im Werk des Kunden gibt“, erklärt Tamasi. „Wir haben unsere ganzen Abläufe daran ausgerichtet, um Fehler zu vermeiden. Für jede Linie gibt es hier jeweils einen Mitarbeiter, der die erforderlichen Lieferungen zusammenstellt. in diesem Werk arbeiten ebenfalls rund 20 Mitarbeiter von uns. Sie nehmen die Lieferungen in Empfang und bringen sie zu den entsprechenden Produktionslinien.“

Das klingt einfacher als es ist. Nicht alle Routen sind gleichwertig. Gelb und Violett sind beispielsweise besonders wichtig, weil dort eine fehlende oder fehlerhafte Lieferung zum Bandstillstand führen kann. Grün und Rot hingegen enthalten Teile, die in verschiedenen Montagestufen nutzbar sind. Außerdem sind die Routen nicht immer gleich; je nach den Produktionsanforderungen des Kunden müssen sie flexibel angepasst werden.

Nach dem Rundgang durch die Halle lassen wir uns von Tamasi und Gallerani über die Personalsituation informieren. „Schnellecke hat einen guten Ruf in der Region“, betont Tamasi. „Die Leute kommen her und fragen, ob sie für uns arbeiten können.“

So war es relativ einfach, gute Mitarbeiter zu bekommen – mit einem für die Region ungewöhnlich niedrigen Altersdurchschnitt von etwa 30 Jahren. „Vor allem bei diesem Kunden ist es wichtig, dass die Mitarbeiter dort nicht nur über Sachkenntnisse verfügen, sondern auch gut in der Kommunikation sind“, betont Gallerani. „Sie arbeiten ständig direkt mit dem Kunden zusammen, und da muss die Chemie stimmen.“

 

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1.200 Fahrzeuge am Tag

Davon können wir uns jetzt selbst überzeugen. Nur wenige Autominuten, und wir erreichen das Werk. Das Unternehmen ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Region. Es besteht im Wesentlichen aus der Karosserieproduktion, der Lackiererei und der Endmontage.

Nur vereinzelt sieht man Menschen durch das parkartige Gelände zwischen den Gebäuden gehen, ansonsten ist es erst einmal überraschend ruhig. Der ganze Lieferverkehr wird an der Rückseite des Geländes abgewickelt, rund 500 Lkw und ein kompletter Zug am Tag. Für den Abtransport der produzierten Fahrzeuge und Fahrgestelle sorgen bis zu acht Züge und über 200 Fahrzeugtransporter am Tag.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kunden tragen alle weiße Arbeitskleidung, sofern sie nicht, wie beim Schweißen, Schutzkleidung benötigen. Dieser Standort ist das größte Karosseriewerk der ganzen Unternehmensgruppe; alle Fließbänder summieren sich auf eine Länge von rund acht Kilometern. Hier werden die Karosserien jedoch nur zusammengebaut. Die verzinkten Blechteile und sonstigen Komponenten kommen von Zulieferern.

Herzstück des Werks ist die Endmontage, in der über 2.500 Mitarbeiter beschäftigt sind. Der Transporter kann in über 13.000 Konfigurationen bestellt werden. Dafür werden viele unterschiedliche Einzelteile an der Montagelinie benötigt, an deren Anlieferung auch Schnellecke beteiligt ist. Wenn die angeforderten Teile eingescannt und zusammengestellt sind, flitzen die Elektrostapler auf ihren Routen los, die bis zu zwei Kilometer lang sind. Hier werden, wie bei der Endmontage, noch Menschen benötigt; auf unserem Weg durch die Halle begegnen uns aber auch fahrerlose Transportsysteme, die Teile transportieren.

Laura Gallerani ist häufig hier im Werk, um Optimierungspotenziale auszumachen. „Man muss mit den Leuten reden, man muss ihnen zuhören. Man muss bei ihnen sein, wenn sie ihre Arbeiten auf dem Shopfloor verrichten. Nur dann versteht man wirklich, wie alles abläuft und wie man Dinge verbessern kann. Die besten Verbesserungsvorschläge kommen von der Basis.“

Die Zahlen geben ihr recht: Im letzten Jahr hatte der Standort Atessa den höchsten Anteil an realisierten Kaizen in der ganzen Gruppe, gemessen an der Zahl der Mitarbeitenden. „Unsere Mitarbeiter sind unsere Stärke“, unterstreicht Gallerani. Und Tamasi ergänzt: „Die Menschen müssen das Gefühl haben, in alle Prozesse eingebunden zu sein. Dann ziehen sie auch bei neuen Ideen mit und wir können gemeinsam viel erreichen.“